Der Ruf der Berge

Der Ruf der Berge

Mein Name ist Uta Ibrahimi, eine professionelle Bergsteigerin und bekennende Naturliebhaberin aus dem Kosovo - dem jüngsten Land im Südosten Europas und Heimat des magischen Sharr-Gebirges.
Die Entstehung der Liebe zu den Bergen war kein einfacher Weg: Ich hatte keine Erfahrung im Bergsteigen.
Ich bin mit meiner Familie spazieren gegangen, aber eine richtige Wanderung habe ich erst mit 28 Jahren unternommen und war mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert finanzieller und emotionaler Art, aber auch mit Geschlechterstereotypen, die ich überwinden musste - und das tue ich noch bis heute.

Ich denke, dass meine Bemühungen dazu beigetragen haben, dass mehr Frauen in die Reihen der Bergsteigerinnen und Bergführerinnen aufgenommen werden. Das sind die Frauen die bereit sind, jede gläserne Decke zu durchbrechen - mit ihren Eispickeln!

Wenn es um mich geht, kann man sagen, dass ich in erster Linie eine Naturliebhaberin und eine leidenschaftliche Menschenrechtsaktivistin (Stärkung der Rolle der Frau) bin und erst in zweiter Linie Bergsteigerin. Überraschenderweise lassen sich diese beiden Welten in großer Harmonie miteinander verbinden und verstärken die Botschaft noch mehr.

In gut 6 Jahren habe ich 7 der 14 höchsten Gipfel der Welt bestiegen und bin damit die einzige Frau aus dem Balkan die das geschafft hat. Ich war die erste Albanerin, die den Mount Everest bestiegen hat, ich war Teil zahlreicher Bergsteigerexpeditionen zu den höchsten Bergen einschließlich der von National Geographic gesponserten Expedition zur Lhotse-Südwand im
Jahr 2018.
Ich habe mich an zahlreichen Projekten zum Schutz der Umwelt beteiligtinsbesondere an meinem geliebten Sharr-Gebirge, das sich bis in die benachbarten Länder Nordmazedonien und Albanien erstreckt. Dabei habe ich die Gipfel von mehr als 100 Bergen in der meiner Heimat und in Europa und Asien erreicht. Als begeisterte Trailrunnerin leite ich das Team, das den ersten grenzüberschreitenden Ultra-Trail-Lauf auf dem Balkan, den High Scardus Ultra, organisiert hat.
Als Botschafterin für Frauenrechte und Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs), habe ich Kinderbücher geschrieben und produziert, zahlreiche Reden in Schulen gehalten, verschiedenste Camps veranstaltet, bin mit Gruppen von Mädchen und Jungen gewandert, habe junge Mädchen zum Bergsteigen ermutigtBei all diesen Unternehmungen wiederhole ich immer wieder die gleiche Botschaft: Mädchen können Berge besteigen und Bergsteigerinnen werden. 
Meine Liebe zu den Bergen begann an dem Tag, an dem ich eine Wanderung in den benachbarten Bergen meines Heimatlandes Kosovo unternahm. Zu dieser Zeit arbeitete ich in einer Marketing-Agentur, hatte lange Arbeitszeiten und einen Tsunami von Stress zu bewältigen - wahrscheinlich kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt. In einem spontanen Moment entschied ich, etwas zu tun, was ich noch nie zuvor getan hatte: in den Bergen wandern zu gehen!
Seither haben mich die Berge geprägt.

Diese Wanderungen, die Natur, die Höhe, das Gefühl der Freiheit waren meine Berufung. 
Dita Mula, eine der wegweisenden Bergsteigerinnen meines Landes, hat mich inspiriert, den bergigen Weg der Selbstfindung zu gehen. Dafür bin ich bis an mein Lebensende dankbarIn diesem Moment wusste ich, dass ich alles hinter mir lassen musste, um mich auf diese neue Reise zu begeben - auf die Reise der Berge, wohin auch immer sie mich führen würden.
"Ich hätte nie gedacht, dass ich es schaffen kann, aber jetzt weiß ich, dass ich es kann, weil du es geschafft hast" - das war einer der vielen Sätze, die mir junge Mädchen sagen, wenn ich in ihrer Schule spreche oder wenn sie auf mich zukommen und Fotos mit mir machen wollen. Die Vorstellung, dass diese jungen Mädchen als Erwachsene noch mehr erreichen werden, erfüllt mich mit großer Freude.

Nun, mein Einstieg in die Welt des Bergsteigens war nicht so einfach und fröhlich, wie ich es mir ursprünglich vorgestellt hatte. Ich wusste, dass es für ein Mädchen schwieriger ist, als für die Männer, aber die Realität hat mich ziemlich hart getroffen. Natürlich wollte ich an Expeditionen teilnehmen, neue Rekorde aufstellen, neue Orte erkunden, neue Leute kennen lernen - aber all diese Träume schienen bei einigen Leuten für Unmut zu sorgen. Die Tatsache, dass ich eine Frau bin, war der Hauptgrund dafür, wie ich später herausfand. Bei allem sah ich mich mit einer noch nie dagewesenen Flut von Hindernissen konfrontiert - dies galt wahrscheinlich auch auf viele andere Bergsteigerinnen. Ich wurde von Expeditionen ausgeschlossen, mir wurde die Finanzierung gestrichen, ich wurde als "dickköpfig" und "undankbar" beschimpft - was ich heute mit Stolz trage, aber damals war ich mir nicht sicher. Freunde, Familie (einige) und Fachleute aus dem Bergsport glaubten einfach nicht, dass eine junge Frau zu solchen Leistungen und Träumen fähig ist. Es spielt keine Rolle, aus welchem Land man kommt, es ist einfach schwieriger für Mädchen und Frauen, nicht männlichen Geschlechts, Dinge zu tun von denen sie träumen.

Als ich mit dem Bergsteigen begann wusste ich nicht, dass dies ein Wendepunkt in meinem Leben sein könnte. Nach der erfolgreichen Besteigung des Mount Everest kehrte ich mit einem neu gefundenen Ziel und einer größeren Wertschätzung des Lebens nach Hause zurück. Jetzmöchte ich meine Erfahrungen mit der jüngeren Generation teilen, etwas das ich sehr vermisst habe als ich selbst eine aufstrebende Bergsteigerin mit großen Träumen war
Die Liebe, die ich empfinde, wenn ich sehe, wie junge Menschen - vor allem Mädchen - die Berge schützen, neue Gipfel erreichen und ihre Ängste überwinden, wird mir den nötigen Ansporn geben, um meine bisher schwierigste Aufgabe zu bewältigen: alle 14 Achttausender zu besteigen und die erste Frau aus meiner Region zu sein, die das schafft.
Die Zukunft ist rosig und hart.