Erstbegehungen in Kirgistan

Erstbegehungen in Kirgistan

Ein ganz persönlicher Blog 

Ins Ungewisse mit wenig Erwartungen starteten Christoph, Franz und ich in den Norden Kirgistans. Unser Plan A war es eigentlich, in den Süden zu reisen und einige Klettertouren zu wiederholen (Klettertouren, die bereits existieren). Aufgrund grenznaher Unruhen mussten wir uns aber ganz spontan umentscheiden. Der langen Rede kurzer Sinn: Handbohrer, einiges an Schlingenmaterial und noch mehr Schlaghaken zusätzlich ins Gepäck und schon stehen wir im Ala-Archa-Nationalpark. Wir wissen nicht viel, nur dass das Tal für Wanderer gut erschlossen ist und schon einige Eiswände begangen wurden. Auf dem Weg nach oben zum Gletscher entdeckten wir auf ca. 3000 m ü. M. traumhafte Granitwände mit coolen Risssystemen. Für uns war sofort klar, dass wir diesen Wänden eine Chance geben mussten. Also stellten wir unser Zelt auf und starrten noch bis in die Dunkelheit mit dem Fernglas auf mögliche Routen und Erstbegehungen. Schnell merkten wir, dass diese Wände noch von keinem Kletterer berührt worden waren, und so war es für uns umso spannender, sofort mit unserer ersten Erstbegehung zu starten.

Wir kamen extrem schnell voran, es gab immer schöne Risse zum Absichern, und tatsächlich brauchten wir keinen einzigen Haken für unsere erste Tour. Alles war perfekt „clean“, nur mit mobilen Sicherungsmitteln abzusichern. Unser Taxifahrer ins Tal hieß Razul und machte sich schnell zu einer Legende für uns, darum nannten wir unsere erste Tour „Taxi Razul“:

Tour 1: Taxi Razul

  • L1: 3 | 20 m

  • L2: 6b | 20 m

  • L3: 6b | 30 m

  • L4: 6a | 45 m

  • L5: 6a+ | 20 m

  • L6: 6c+ | 35 m

  • L7: 6a | 55 m

  • L8: 4 | 15 m

Ganz oben richteten wir mit Schlingen noch alles zum Abseilen ein. Höchst intensiv ging es am nächsten Tag weiter. Wir errichteten eine neue Drei-Seillängen-Tour auf der anderen Talseite. Eine richtig coole, abwechslungsreiche Kletterei! Und wieder ist die ganze Tour perfekt „clean“ abzusichern… unfassbar: Ich stieg in die erste Seillänge ein, welche mich ordentlich forderte. Alles ist dabei… angefangen von einem breiten Faustriss, übergehend in einen „Offwidth“ (ein körpergroßer Riss), der mit einem finalen, kurz überhängenden Handriss endet. Weiter ging es in einem coolen Handriss zickzack, bis zu einem Podest mit perfektem Potenzial für einen Standplatz. Die nächste Seillänge ist eine überhängende Verschneidung mit einem schmalen Fingerriss. Gut, dass Christoph dabei war, er ist der stärkste Kletterer von uns dreien und meisterte diese Schüssellänge perfekt. Wir bewerteten sie anschließend mit französisch 7c. Nach der letzten Seillänge konnten wir tiptop hinten über hügeliges Gelände wieder absteigen.

Tour 2: Angry Bird

  • L1: 6c | 45 m

  • L2: 7c | 30 m

  • L3: 6a | 30 m

Über unsere dritte Tour könnte man eigentlich einen eigenen Blog schreiben, denn diese hatte es in sich und trägt nicht umsonst den Namen „Crackdream“. Über fünf Seillängen verfolgten wir ein perfektes Risssystem, das spannender nicht sein konnte. Gleich in der ersten Seillänge ist Feingefühl gefragt. Säulenartig kletterte man hoch bis zum ersten Podest in der Wand. Die zweite Seillänge dieser Tour war sehr kurz und trotzdem eine der schönsten und ästhetischsten Längen, die ich in meinem Klettererleben je vorsteigen durfte. Traversierend auf links mit äußerst spannenden Bewegungen bewältigten wir den Handriss mit vielen verschiedenen Spreizbewegungen mit den Füßen. Daraufhin erreichten wir schon wieder ein perfektes Podest für einen Standplatz. Von hier aus ging es höchst spannend in die absolute Schüssellänge der Tour.
Christoph war an der Reihe und stand vor dem horizontalen Rissdach, das mit einem nur fingerbreiten Riss durchzogen war. Dieses hatten wir schon von unten mit dem Fernglas „gescoutet“ und als „eventuell kletterbar“ eingestuft. Boom, aufgeregt schaute ich von meinem Sicherungspodest aus zu, wie Chrischi sich noch aus dem Zweifüßlerstand zurückbeugte, drei Sicherungen legte und dann eiskalt horizontal über das Dach hinauskletterte. Weiter sehe ich ihn als Sicherer leider nicht mehr, doch es ging schnell voran, was für mich hieß, dass der Riss sich weiter durch die Wand zieht. Plötzlich hörte ich: „Staaand!“ Wir juchzten beide aus voller Kehle und bewerteten diese Länge schlussendlich mit französisch 7c+.


PS: Für mich ein Schmankerl, bei dem ich mich allerdings durch das Dach „durchaiden“ (also mit Hilfe von Sicherungsmitteln technisch „durchschummeln“) musste. Wie es der Zufall wollte, ging es von hier aus perfekt in einem Handriss weiter, der sich über die gesamte vierte Seillänge auf einen Turm durchzog. Fast geschafft, nun kam noch eine kurze Seillänge mit Wandkletterpassagen bis zum Ende der Wand. Als wir aus dieser Tour ganz oben austoppten, wurden wir auf einmal ganz emotional. Wir fielen uns in die Arme und konnten es kaum glauben. Wenn man bedenkt, wie viel Glück dazugehört, so eine wahnsinnig tolle Tour durch eine ganze Wand zu finden, ist das wirklich unfassbar. Wir setzten uns am Ausstieg ins Gras und ließen unseren Emotionen freien Lauf. Chrischi sagte abschließend noch zu mir: „Julian, hier haben wir wirklich gerade eine Tour erschaffen, die das Klettererherz höher schlagen lässt… ich meine schau dir diese Risse an…“ Ich antwortete nur noch mit: „Bei uns zuhause in den Alpen wäre das ein Ultraklassiker.“ Jetzt mussten wir uns aber wieder sammeln, denn wo man hinaufklettert, muss man auch wieder irgendwie hinunterkommen. Mit zwei Steinmännchen markierten wir den Weg zu unseren Abseilern, die wir jeweils mit einem Schlaghaken und einem Keil eingerichtet hatten. Und so fanden wir uns ein wenig später am Wandfuß wieder, wo wir dann gleich auf Franz trafen. Gemeinsam stiegen wir zum Zelt ab und ließen das Ganze noch bei einem guten Schnäpslein Revue passieren.

Tour 3: Crackdream

  • L1: 7a | 30 m

  • L2: 6c | 15 m

  • L3: 7c+ | 30 m

  • L4: 6b+ | 30 m

  • L5: 6a | 25 m

Unsere nächste tolle Linie entdeckten wir ein paar Tage zuvor, aufgrund einer höchst markanten Verschneidung. Für mich war klar, dass ich die erste Seillänge, die zu dieser Verschneidung führte, als Erster klettern wollte. Ein genialer Riss durch zuerst kohlrabenschwarzes und dann durch leuchtend oranges Gestein. Die Seillänge lag mir richtig gut, und so kletterte ich sie bis zum – wieder einmal zufällig perfekt liegenden – Podest für einen Standplatz. Als Franz und Christoph bei mir am Stand ankamen, kletterte Chrischi in die Verschneidungslänge, die wie ein offenes, oranges Buch aussah. Es stellte sich schnell heraus, dass diese Seillänge noch etwas Putzarbeit benötigte und nicht immer leicht abzusichern war. Doch er meisterte es wirklich gut, und wir konnten noch tipptopp eine etwas leichtere dritte Seillänge anhängen.

Tour 4: Open Book

  • L1: 7a, 25 m

  • L2: 7b+/6c A2, 20 m

  • L3: 6b, 25 m

Und jetzt möchte ich einmal ganz ehrlich Klartext reden: Kennt ihr das, wenn euch alles in die Karten spielt und es nicht besser laufen könnte? Man gelangt wie in einen Rausch – einen gefährlichen Rausch. Man will immer mehr und mehr davon, weil man das Gefühl hat, es kann einen nichts mehr aufhalten. Genau so habe ich mich nach diesen traumhaften und höchst intensiven Erstbegehungen gefühlt. Doch schnell führte mich ein Erlebnis, bei dem nicht mehr alles so rund lief, wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Und das war auch gut so. An diesem Tag war das Wetter recht instabil, was wir zum Zeitpunkt der Planung unserer nächsten Tour aber noch nicht wussten. Wir wollten unbedingt noch eine letzte Tour erschließen, die durch das Fernglas wahnsinnig gut schien. Also machten Chrischi und ich uns auf den Weg zum Wandfuß dieser für uns noch neuen Wand. Der Zustieg bis zum kompakteren Wandfuß war schon sehr ungut. Also hatte Chrischi die Idee, hier gleich einen 60m-Abseiler für später einzurichten. Ich stieg in die erste Länge ein und kletterte durch viel zu brüchiges Gelände, das immer steiler wurde. Nach einigen relativ guten, aber auch einigen fragwürdigen Placements (gelegten Sicherungsmitteln) kletterte ich immer weiter und fand aber einfach keine perfekten Platzierungen für meine Sicherungsmittel mehr. Und da stand ich dann mit einem Mal auf einem fingerbreiten Leistchen in einer senkrechten Wand – 15 Meter über der letzten soliden Sicherung, dazwischen nur noch zwei kleine Microfriends, in die man eigentlich nicht stürzen möchte. 
An dieser Stelle, an der ich wirklich kaum noch einen Ausweg fand, entdeckte ich plötzlich einen kleinen Riss für einen Schlaghaken. Mein Messerhaken passte perfekt hinein. Kling, kling, kling sang der Haken, den ich hineinhämmerte … er schien mir perfekt zu passen. Plötzlich ein dumpfes „Patsch“, und ich sah, wie sich der ganze Fels um den Schlaghaken sprengte und einriss. Alle möglichen Gedanken und Szenarien spielten sich zu diesem Zeitpunkt in meinem Kopf ab. Wie naiv ich weitergeklettert war, obwohl keine guten Sicherungen mehr kamen – ich kann’s nicht glauben. Schon zwei Stunden war ich nun in dieser Seillänge unterwegs. Es regnete schon seit 20 Minuten, und fern von uns hörte man Donner. Chrischi bewahrte kühlen Kopf beim Sichern und meinte, ich solle versuchen abzuklettern: „Du kannst das, Julian“, schrie er komplett durchnässt und halb erfroren zu mir hoch. Ich zögerte nochmals eine Zeit, da es mir zu schwierig erschien, abzuklettern, bis ich mir dann einen Ruck gab und Meter für Meter langsam abkletterte.

Bei meinem letzten soliden Placement ließ ich mich von Chrischi abseilen und kam zittrig, in Schweiß gebadet, fast schon weinend am Stand unten an. Christoph schaffte es tatsächlich noch, das restliche Material, das ich in der Seillänge hängen lassen musste, auszubauen. Anschließend waren wir uns sofort einig: Es war Zeit, zurück abzuseilen. Gott sei Dank hatten wir den Abseilstand schon eingerichtet. Unvorstellbar war mein Gefühl, wieder auf flachem und sicherem Boden anzukommen. Reflektiert betrachtet habe ich aus dieser Situation mehr gelernt als je zuvor beim Klettern. Oft fliegt ein Schutzengel mit dir da oben mit, doch diesen sollte man nicht zu oft beanspruchen.
Unten im Zelt wartete Franz, der sich schon große Sorgen um uns gemacht hatte. Ich fiel ihm in die Arme und ließ ihn kaum noch los. Solche Situationen wird es immer geben in den Bergen. Wichtig ist nur, dass man daraus lernt.
In Bishkek, der Hauptstadt Kirgistans, ließen wir es uns danach richtig gut gehen. Wahnsinn, was wir alles geschafft hatten!
An dieser Stelle könnte ich noch ewig weiterschreiben, da wir uns zu diesem Zeitpunkt erst in der Hälfte unserer Kirgistanreise befanden. Da ich den Bericht aber nicht mehr in die Länge ziehen möchte, wird es in ein paar wochen den zweiten Teil unserer Reise zu lesen geben.