Cerro Torre – Traum oder Wirklichkeit?

Cerro Torre – Traum oder Wirklichkeit?

Nach ein paar erholsamen Tagen in El Chaltén stand tatsächlich noch das wahrscheinlich beste Wetterfenster der ganzen Saison bevor. Vier bis fünf Tage am Stück relativ gutes Wetter, eiskalte Temperaturen und nur sehr wenig Wind an drei bis vier Tagen.
Für meine Partnerinnen Amelie und Anna war sofort klar, was dieses Wetterfenster bedeutet. Als Spezialistinnen im Eisklettern wussten sie, dass bei diesen Temperaturen das vermutlich perfekte Wetterfenster für den Cerro Torre bevorstand. Der Cerro Torre – ein „Traumberg“ für die beiden jungen Alpinistinnen, für mich aber zu diesem Zeitpunkt noch unrealistisch, auch nur mit dem Gedanken an eine Besteigung dieses Berges zu liebäugeln.
Nachdem ich mich im Kletterführer allerdings etwas eingelesen hatte und mitbekam, dass Amelie und Anna fix mit mir im Team rechneten, wurde auch mir langsam klar, dass ich diese einmalige Chance nutzen wollte. Sofort starteten wir mit der Tourenplanung, die sich als äußerst umfangreich herausstellte.

Und so war es am 21. Februar 2024 soweit. Amelie, Anna und ich starteten, vollbepackt und topmotiviert, über das Inlandeis zum Cerro Torre. Wir hatten die Via Dei Ragni Route geplant. Im Führer ist diese Tour mit 600m Wandhöhe, 90 Grad im Eis und M4 im Mixedgelände bewertet.

Nach zwei Tagen Zustieg über große Gletscher mit riesigen Spalten und steilen Schneefeldern schlugen wir unser erstes Biwak am Berg auf. Spät am Abend erreichte uns noch eine argentinische Seilschaft und schlug ihr Zelt direkt neben uns auf. Die Sympathie zwischen unseren beiden Teams war von Anfang an eine ganz besondere. Schnell erkannten wir, dass wir zusammenarbeiten mussten, wenn wir wirklich den Gipfel als Ziel anpeilen. Am nächsten Tag ging es weiter über ungutes Mixedgelände, das kaum abzusichern war. Im Kletterführer ist hier noch ein Schneefeld abgebildet, das mit Steigeisen leicht passierbar wäre. So verändern sich die Berge. Danach folgte ein traumhaft schöner Felsgrat, den man mit Felskletterei überwinden konnte. Wir kamen an diesem Tag gut voran und ließen den Col de la Esperanza (ein bekannter Biwakplatz) hinter uns. Dann ging es in die ersten Eislängen. Zuerst noch etwas flacher, bis es sich nach und nach zuspitzte und anspruchsvoller wurde.

Ein langer Tag neigte sich dem Ende zu, doch es erwartete uns noch eine 90 Grad steile „Rime-Eis“ Länge bis zum El Elmo (ebenfalls ein bekannter Biwakplatz). „Rime-Eis“ ist ein sehr spezielles Eis, das es nur an ganz wenigen Orten auf der Welt gibt. Es ist spröde und ganz besonders in der Beschaffenheit. Man benötigt spezielle Aufsätze für die Eisgeräte, sogenannte Wings. Anna stieg vor – juhuuu, unsere erste „Rime-Eis“ Länge war uns geglückt.

Völlig erschöpft schlugen wir unser Zelt auf und genossen einfach nur den Moment und diese unbeschreiblich schöne Landschaft mit dem Inlandeis westseitig und der Headwall vom Cerro Torre direkt hinter uns. Kurz darauf erreichten unsere Freunde ebenfalls das Lager. Wir kochten gemeinsam und besprachen den nächsten Tag. Lauti packte noch seine Flöte im Sonnenuntergang aus und schon fielen einem nach dem anderen im Biwak die Äuglein zu.

01:55 Uhr oder anders gesagt zwei Stunden später klingelte unser Wecker. Es ging weiter. Zögernd und noch völlig erschöpft vom Vortag machten wir uns bereit für einen neuen langen Tag.
Um punktgenau 03:00 Uhr in der Früh stieg Amelie in eine äußerst schwierige „Rime-Eis“ Länge ein, die sie perfekt meisterte. Diese Länge forderte mich auch im Nachstieg noch extrem. Drei traversierende Eislängen über den El Elmo später standen wir vor dem großen Mixedteil, welcher uns anschließend in die berühmte Headwall führte.

Das Mixedgelände überwanden wir überdurchschnittlich schnell und so standen wir schon halb in der Headwall des Cerro Torre. Ich kann das jetzt beim Schreiben noch kaum fassen und muss es deshalb wiederholen….

Wir standen in der Headwall des Cerro Torre!

Die Headwall: Hier wurde mir nochmals bewusst, wie wichtig es ist, alles gut zu kalkulieren, kühlen Kopf zu bewahren, jeden Schritt und jedes Eisgerät perfekt zu platzieren und dabei zugleich noch schnell zu sein. Wenn einem hier oben etwas passiert, dann ist die Wahrscheinlichkeit für eine Rettung von außen gleich Null. Man ist als Seilschaft einfach ganz auf sich alleine und auf andere Teams am Berg gestellt. Aber jetzt wieder Schluss mit solchen Gedanken und wieder volle Konzentration für die Headwall. Hier waren wir etwas Eisschlag ausgesetzt. Amelie platzierte ihre Stände aber perfekt, sodass unser Risiko aufs Minimalste heruntergeschraubt wurde. Seillänge für Seillänge arbeiteten wir uns durch die steile Wand. Ich kam an mein Limit und auch Amelie und Anna waren total erschöpft. Doch pünktlich um 19:00 Uhr kamen wir gut über der 90 Grad steilen Wand direkt unter dem ersten „Gipfelmushroom“ an.

Völlig erschöpft von den extremen Anstrengungen und dem wenigen Schlaf der letzten Tage, schlugen wir unser drittes Biwak am Berg auf. Unsere Freunde aus Argentinien hatten kein Zelt mehr mit hochgenommen, da sie den Gipfel schon für diesen Tag geplant gehabt hätten. Doch dies war nicht mehr möglich. Sie überlegten kurz umzudrehen, ließen sich dann aber doch von uns überzeugen, am nächsten Tag noch einen gemeinsamen Gipfelpush zu versuchen. Wir teilten unser Essen mit ihnen, liehen ihnen zwei Schlafsäcke und quetschten uns zu viert in unser Zwei-Mann-Zelt. Die beiden mit den Schlafsäcken schliefen draußen neben dem Zelt. Es stand uns eine ziemlich kalte, aber dafür kurze Nacht bevor.
In der ganzen Euphorie und bei den extremen Emotionen und Anstrengungen könnte man manchmal fast vergessen, die Schönheit dieses Berges zu genießen. Und so hielt ich es für wichtig, genau diese Momente so intensiv wie möglich auszukosten. Wir erlebten hier oben Sonnenuntergänge und Landschaften, wie wir sie noch nie gesehen hatten. Diese Emotionen teilte ich noch ein letztes Mal mit der ganzen Gruppe, bis wir dann alle höchst unbequem und engstens aneinandergereiht einschliefen. Es war jetzt 22:08 Uhr.

00:00 Uhr, raus aus den Federn! Wir schauten aus dem Zelt. Es schneite, es war neblig und die Sicht extrem schlecht. Mit den Stirnlampen sahen wir nur drei bis vier Meter weit. Bis wir dann wirklich in die Gänge kamen und die erste „Rime-Eis“ Länge kletterten, war es dann schon 04:30 Uhr. Wir fanden den Tunnel durch den ersten Mushroom nicht, das durfte nicht wahr sein! Doch dann entdeckte Anna einen anderen Weg über eine leicht überhängende Eisflanke, die in einen Kanal führte. Anna kletterte und kletterte. Am Limit, aber hochkonzentriert und extrem stark.
Wir vermuteten den Gipfel nicht mehr ewig weit über uns und erkletterten eine weitere „Rime-Eis“ Länge. Das Wetter wurde jedoch zusehends schlechter und wir befanden uns inzwischen fast in einem White Out… und übrigens nicht nur in einem White Out, sondern auch auf dem ausgesetztesten und abgelegensten Berg, auf dem wir je unterwegs waren. Geschätzt 40 Meter unter dem Hauptgipfel, also fast „oben“. Und doch mussten wir uns eingestehen: „Es macht einfach keinen Sinn mehr weiterzuklettern, wir müssen hier so schnell wie möglich wieder hinunter.“ Diesen Entschluss fassten wir alle gemeinsam und schweren Herzens. Mit Sicherheit war es eine unserer emotional schwierigsten Entscheidungen, die uns alles abverlangte. Wie gerne hätte sich jeder Einzelne von uns noch mit der letzten physischen Kraft hochgekämpft. Doch es war ganz eindeutig und klar, was uns der Berg zurief. „Ihr müsst umkehren, hier und jetzt!“ Und das taten wir auch. Es war das einzig Richtige. Realistisch betrachtet hatten wir laut Wetterbericht nur noch diesen einen Tag mit stabilem Wetter und noch ca. 20 Stunden Abseilen vor uns. Beim Abseilen lief alles perfekt. Wir arbeiteten Hand in Hand mit unseren argentinischen Freunden zusammen und standen um 14:30 Uhr wieder am El Elmo in der Sonne.

Bis wir dann fertig abgeseilt, abgestiegen waren und am Gletscher standen, wurde es noch spät am Abend. Doch das Wichtigste war, dass wir wieder heil hier angekommen waren. Wir wollten unbedingt noch über unsere Gefühle und Emotionen am Gipfel reden, fielen aber nach dem Zelt-Aufstellen todmüde ins Bett.
Wir konnten nicht einmal mehr einen Wecker stellen, das machte aber nichts. Um 09:00 Uhr wachten wir auf, packten unsere Sachen und liefen Richtung Süden über das Inlandeis. In genau 17 Stunden waren wir wieder zurück in El Chaltén: müde, erschöpft, aber glücklich.